Fluchtkisten mit Geschichte
Infolge des Zweiten Weltkriegs waren mehr als 12 Millionen Deutsche im östlichen Europa von Flucht und Vertreibung betroffen. Die Chiffre „Flucht und Vertreibung“ bezeichnet viele unterschiedliche Phänomene und sollte zugleich mit der Erinnerung daran verbunden werden, dass viele weitere Personengruppen in dieser Zeit von Zwangsmigration betroffen waren, wie etwa Displaced Persons oder aus Lagerhaft oder Kriegsgefangenschaft Entlassene.
Vertreibung und Flucht der deutschen Bevölkerung im östlichen Europa erfolgten meist zu Fuß, mit Pferdewagen oder in überfüllten Güterzügen. Auf diese Weise gelangten die Menschen in das zerstörte Deutschland, aber auch nach Österreich und in andere Länder. Hunger, Kälte und Krankheiten forderten dabei viele Opfer.
Beim Gepäck galten strenge Beschränkungen: Häufig durften nur 20 bis 50 Kilo pro Person mitgenommen werden, meist bestehend aus Kleidung, Decken, etwas Geschirr, Lebensmitteln, wenigen Erinnerungstücke. Wertgegenstände wurden oft beschlagnahmt oder gingen auf der Flucht verloren.
Die zwei einfachen Holzkisten auf unserem Foto sind stille Zeugen eines solchen Schicksals. Sie stammen aus Wuslack (Wozławki), im früheren Kreis Heilsberg in Ostpreußen, und wurden vermutlich während des Zweiten Weltkriegs vom dortigen Tischlermeister Kinder angefertigt. 1945 kamen die Kisten mit der Vertreibungshabe einer Bauernfamilie auf einem Pferdewagen nach Böken bei Schwerin. Im Jahr 1948 brachte sie ein Spediteur in die britische Besatzungszone. Mit einem Eisenbahntransport gelangten sie nach Nordheim bei Bremen und im Mai 1948 schließlich nach Boll bei Meßkirch. Bis zum 8. Mai 1995 standen sie dort auf dem Dachboden der Familie. Die Kisten, begleitet von persönlich aufgezeichneten Erinnerungen seiner Mutter an die Fluchttage, wurden von dem Sohn 1995 dem Institut übergeben. Heute zählen sie zu den wenigen dreidimensionalen Objekten in den Sammlungen des IKDE.
Fluchtgepäck wie die beschriebenen Holzkisten erzählt mehr als nur die Geschichte des Fluchtweges selbst. Es steht für Verlust, Neuanfang und die Sehnsucht nach Vertrautem. In den wenigen mitgenommenen Gegenständen – Alltagsbedarf, Dokumenten oder Erinnerungsstücken – konzentrierte sich das Leben der Vertriebenen. Das Fluchtgepäck wurde zum letzten greifbaren Stück Heimat. Es bewahrte neben Besitztümern auch persönliche Erinnerungen und Identität.
Quelle:
Hampe, Henrike (Hrsg.): Heimat im Koffer. Flüchtlinge und Vertriebene aus Südosteuropa im Nachkriegsdeutschland. Ulm 2008.