Forschungsprojekt

Briefe von Vertriebenen – Editionsprojekt

Überlieferungen aus der Vertreibungs- und Eingliederungszeit (1946–1956), die auf die nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefundenen Vertreibungsereignisse ein neues Licht werfen können, finden sich heutzutage nur noch selten. Zu solchen Quellen können jedoch jene Briefe von vertriebenen Ungarndeutschen gezählt werden, die sich im IKDE im Nachlass von Eugen Bonomi befinden. Die von deutschen „Bauersleuten" geschriebenen Schriftstücke haben in mehrfacher Hinsicht Raritätswert.
Lesezeit:
  • Teilen

Projektdetails

Projektleitung: Dr.Csilla Schell
Projektlaufzeit: 2018–2025

Der Budapester Germanist und Volkskundler Eugen Bonomi (1908–1979) vermachte dem Vorgängerinstitut des IKDE mit seinem Nachlass unter anderem einen umfangreichen Briefbestand. Da die im Zeitraum 1946–1979 entstandene Briefsammlung von hohem Dokumentationswert ist, wurde ihr ein gesondertes Projekt gewidmet, das 2025 mit einer Brief-Edition zum Abschluss gebracht werden soll. Ziel der Veröffentlichung ist es, die Schriftzeugnisse für eine interdisziplinäre wissenschaftliche Öffentlichkeit sowie für Leserinnen und Leser bereit zu stellen, die sich für die Nachkriegs- und Integrationsgeschichte Baden-Württembergs interessieren. 

Die Schreibenden der insgesamt circa 450 Briefe waren Deutsche, die meist aus bäuerlichen Familien der Ofner Berglanddörfer kamen, 1946 durch Vertreibung aus ihrer Heimat ausgewiesen und in Württemberg-Baden untergekommen waren. Eine wichtige Basis für ihre Korrespondenz mit Bonomi stellte das noch in der alten Heimat während seiner Feldforschungen aufgebaute Vertrauensverhältnis. Aufgrund der Informationsnot, des durch die Verunsicherung verursachten Ausnahmenzustands und nicht zuletzt der mangelnden sonstigen Kontaktmöglichkeiten griffen hier Menschen zu Feder, die das wohl sonst nie getan hätten. Ihre Briefe sind aus heutiger Sicht Zeugnisse der – auch sprachlich fossilierten – donauschwäbischen Schriftlichkeit. 

Das wichtigste Editionsprinzip stellt die komplexe Erfassung der chronologisch und nach Herkunftsorten der Schreibenden sortierten Briefserien von Einzelpersonen und Briefschreiberfamilien dar. Die Erfassung bezieht alle Kontextinformationen mit ein, von Umschlägen über gegebenenfalls beigefügte Briefbeigaben bis hin zu Beschreibungen nach paleographischen Kriterien. Neben den für den Versandweg relevanten Informationen (zeittypische Notopfer-Briefmarken, US-Zensurstempel) wurden die zahlreichen Umschlagsnotizen des Empfängers mit aufgenommen (zum Beispiel „wichtig“, „vollständig abdrucken“), wodurch wir in Bonomis Umgang sowie in das Nachleben der Schriftzeugnisse einen Einblick bekommen. 

Die umfassende Beschreibung der Beschaffenheit und der Form der Briefe soll helfen, die mangelhafte Briefschreibelogistik und das dadurch beeinflusste, manchmal allein durch Papiernot beeinträchtigte Schreibverhalten zu beleuchten. Dabei können zum Beispiel Angaben zur Vollständigkeit auf eventuell (aus welchen Gründen auch immer) entfernte Briefteile hinweisen. Quantitative Daten zu den Briefserien geben Auskunft über die Schreibhäufigkeit, über Schreibphasen und -dauer, über Aussetzen oder Gründe für Beendigung des Briefwechsels. 

Die Metadaten, die anhand der Briefinhalte erhoben wurden, sind insbesondere bei „Vielschreibenden“ (das heißt Briefserien) informativ. Sie umfassen

1) Lebensdaten
2) Korrespondenzzeiträume
3) Anzahl der Briefe
4) Angaben zu Korrespondenzverlauf und -art
5) Angaben zur Sprache und zum Sprachwechselverhalten.

Die aufgrund der Briefinhalte gewonnenen Schlagwörter werden thematisch, personenbezogen und geographisch gruppiert und ermöglichen die Suche im Textbestand. 

Ein besonderer Schwerpunkt der Edition lag auf der weit verbreiteten Zweisprachigkeit der Briefe als Alleinstellungsmerkmal dieses Briefbestandes – zugleich ein Alleinstellungsmerkmal der Vertriebenen aus Ungarn überhaupt, die nicht nur für die hier schreibenden Vertriebenen im Umland von Budapest gelten. Ein bewusster Sprachwechsel an nicht wenigen Briefstellen kommt einem Informationsmehrwert gleich, dessen Hervorhebung ein zentrales Anliegen war, sodass sich die Gestaltung des Brieftextbruchs danach richtet. Die Sprachwechselbereitschaft der Briefschreibenden variiert selbst im zeitlichen Verlauf sehr stark und führt vor Augen, wie individuell (auch) der schriftliche Gebrauch des Ungarischen bei Deutschen aus Ungarn war. Die Edition wird nicht nur zum Verständnis der Briefkommunikation und Schriftlichkeit der unteren Bevölkerungssichten in der Nachkriegszeit einen Beitrag leisten, sondern auch neue Perspektiven auf die Integrationsgeschichte der vertriebenen Deutschen aus Ungarn eröffnen.