Der Budapester Germanist und Volkskundler Eugen Bonomi (1908–1979) vermachte dem Vorgängerinstitut des IKDE mit seinem Nachlass unter anderem einen umfangreichen Briefbestand. Da die im Zeitraum 1946–1979 entstandene Briefsammlung von hohem Dokumentationswert ist, wurde ihr ein gesondertes Projekt gewidmet, das 2025 mit einer Brief-Edition zum Abschluss gebracht werden soll. Ziel der Veröffentlichung ist es, die Schriftzeugnisse für eine interdisziplinäre wissenschaftliche Öffentlichkeit sowie für Leserinnen und Leser bereit zu stellen, die sich für die Nachkriegs- und Integrationsgeschichte Baden-Württembergs interessieren.
Die Schreibenden der insgesamt circa 450 Briefe waren Deutsche, die meist aus bäuerlichen Familien der Ofner Berglanddörfer kamen, 1946 durch Vertreibung aus ihrer Heimat ausgewiesen und in Württemberg-Baden untergekommen waren. Eine wichtige Basis für ihre Korrespondenz mit Bonomi stellte das noch in der alten Heimat während seiner Feldforschungen aufgebaute Vertrauensverhältnis. Aufgrund der Informationsnot, des durch die Verunsicherung verursachten Ausnahmenzustands und nicht zuletzt der mangelnden sonstigen Kontaktmöglichkeiten griffen hier Menschen zu Feder, die das wohl sonst nie getan hätten. Ihre Briefe sind aus heutiger Sicht Zeugnisse der – auch sprachlich fossilierten – donauschwäbischen Schriftlichkeit.
Das wichtigste Editionsprinzip stellt die komplexe Erfassung der chronologisch und nach Herkunftsorten der Schreibenden sortierten Briefserien von Einzelpersonen und Briefschreiberfamilien dar. Die Erfassung bezieht alle Kontextinformationen mit ein, von Umschlägen über gegebenenfalls beigefügte Briefbeigaben bis hin zu Beschreibungen nach paleographischen Kriterien. Neben den für den Versandweg relevanten Informationen (zeittypische Notopfer-Briefmarken, US-Zensurstempel) wurden die zahlreichen Umschlagsnotizen des Empfängers mit aufgenommen (zum Beispiel „wichtig“, „vollständig abdrucken“), wodurch wir in Bonomis Umgang sowie in das Nachleben der Schriftzeugnisse einen Einblick bekommen.
Die umfassende Beschreibung der Beschaffenheit und der Form der Briefe soll helfen, die mangelhafte Briefschreibelogistik und das dadurch beeinflusste, manchmal allein durch Papiernot beeinträchtigte Schreibverhalten zu beleuchten. Dabei können zum Beispiel Angaben zur Vollständigkeit auf eventuell (aus welchen Gründen auch immer) entfernte Briefteile hinweisen. Quantitative Daten zu den Briefserien geben Auskunft über die Schreibhäufigkeit, über Schreibphasen und -dauer, über Aussetzen oder Gründe für Beendigung des Briefwechsels.
Die Metadaten, die anhand der Briefinhalte erhoben wurden, sind insbesondere bei „Vielschreibenden“ (das heißt Briefserien) informativ. Sie umfassen
1) Lebensdaten
2) Korrespondenzzeiträume
3) Anzahl der Briefe
4) Angaben zu Korrespondenzverlauf und -art
5) Angaben zur Sprache und zum Sprachwechselverhalten.
Die aufgrund der Briefinhalte gewonnenen Schlagwörter werden thematisch, personenbezogen und geographisch gruppiert und ermöglichen die Suche im Textbestand.
Ein besonderer Schwerpunkt der Edition lag auf der weit verbreiteten Zweisprachigkeit der Briefe als Alleinstellungsmerkmal dieses Briefbestandes – zugleich ein Alleinstellungsmerkmal der Vertriebenen aus Ungarn überhaupt, die nicht nur für die hier schreibenden Vertriebenen im Umland von Budapest gelten. Ein bewusster Sprachwechsel an nicht wenigen Briefstellen kommt einem Informationsmehrwert gleich, dessen Hervorhebung ein zentrales Anliegen war, sodass sich die Gestaltung des Brieftextbruchs danach richtet. Die Sprachwechselbereitschaft der Briefschreibenden variiert selbst im zeitlichen Verlauf sehr stark und führt vor Augen, wie individuell (auch) der schriftliche Gebrauch des Ungarischen bei Deutschen aus Ungarn war. Die Edition wird nicht nur zum Verständnis der Briefkommunikation und Schriftlichkeit der unteren Bevölkerungssichten in der Nachkriegszeit einen Beitrag leisten, sondern auch neue Perspektiven auf die Integrationsgeschichte der vertriebenen Deutschen aus Ungarn eröffnen.
- „Jetzt muss ich stark sein“ – Magyarországról kitelepített asszonyok levelei a freiburgi IVDE levélállományában [Briefe vertriebener Frauen aus Ungarn im Bestand des IVDE] (26.10.2018, Tagung „Erinnerungen, Texte, Geschichten – von Frauen“, Ethnographisches Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 26.–27.10.2018.)
- Privatbriefe von ungarndeutschen „Flüchtlingen“ aus der Zeit von 1946–1953 und was sie erzählen über Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg (29.04.2017, VHS Schwetzingen).
- Die mitgebrachte(n) Sprache(n). Zum Sprachgebrauch und dessen Wandel bei ungarndeutschen Heimatvertriebenen in ihren Privatkorrespondenzen (16.03.2017, Tagung „Alte Heimat, neue Heimat. Migrationen im alemannischen Raum“, Alemannisches Institut Freiburg e. V. in Zusammenarbeit mit dem IVDE Freiburg und der Stadt Lahr, Lahr, 15.–17.03.2017).
- Ankunft und Integration der Solymárer in Baden-Württemberg im Spiegel ihrer Privatbriefe. Briefe von Heimatvertriebenen aus Solymár/Ofner Bergland im Bestand des IVDE (20.01.2017, Gedenktag der Vertreibung, Gemeindehaus Solymár; www.youtube.com/watch?v=eC_24lZiOdI)
- „Wir haben doch Glück gehabt das wir einander gefunden haben wenigstens Brieflich“. Privatbriefe von Budaörscher Heimatvertriebenen (1946–1979) aus dem Nachlass von Eugen Bonomi im IVDE Freiburg (18.01.2016, Gedenkfeier im Jakob Bleyer-Heimatmuseum zum 70. Jahrestag der Vertreibung der Ungarndeutschen, Budaörs)
- Frauenbriefe im Vertriebenenbrief-Bestand des IVDE Freiburg. In: Acta Ethnologica Danubiana 2021 23, S. 105–116.
- „Mein Mann fragt mich Täglich ob ich den Brief schon beantwortet habe“. Kitelepített magyarországi német asszonyok levelei [Briefe von aus Ungarn vertriebenen Frauen], in: Krisztina Frauhammer/Katalin Pajor (Hg.): Emlékek, szövegek, történetek. Női folklór szövegek [Erinnerungen, Texte, Erzählungen. Frauentexte, weibliche Folklore], Budapest 2019, S. 165–181.
- Zur Wahl der Sprache in Privatbriefen von Heimatvertriebenen aus dem Ofner Bergland. Vorarbeiten zu einer Dokumentation, in: Formen, Orte und Diskurse. Vielfalt und Diversität der kulturellen Phänomene der Deutschen im mittleren Europa (Ethnographica et Folkloristica Carpathica, 20), Debrecen 2018, S. 51–67.
- „Csodálkoztam, hogy magyarul írt levelet kaptam …“ A nyelvváltás szerepéhez kitelepített magyarországi németek privátleveleiben [„Es wunderte mich, einen in ungarischer Sprache geschriebenen Brief bekommen zu haben.“ Zur Rolle der Sprachwahl in Privatbriefen von Vertriebenen aus Ungarn], in: Acta Ethnologica Danubiana, 18–19 (2017), S. 45–54.
- „Ja das ist sehr ri[c]htig. Itt se kellünk[,] ott se kellünk [Hier braucht man uns nicht, da braucht man uns nicht]“ – Sprachwechsel/Kode-Umschaltung in Briefen einer heimatvertriebenen Frau aus Ungarn in den Jahren 1947–1953, in: Hannes Niclas Philipp/Andrea Maria Ströbel: Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Geschichtliche Grundlage und aktuelle Einbettung (Forschungen zur deutschen Sprache in Mittel, Ost und Südosteuropa, FzDiMoS, 5), Regensburg 2017, S. 162–189.
- „… aber wen[n] man sich Deutsch beken[n]t darf man nicht mehr nachhause wen[n] es einmal soweit kom[m]t“. Adatok egy Württembergbe kiűzött budaörsi család integrációjához magánleveleik tükrében [Zur Integration einer nach Württemberg vertriebenen Familie aus Budaörs im Spiegel ihrer Privatbriefe], in: Pro Minoritate, Német kitelepítések – 70 éve [Vertreibung der Deutschen – vor 70 Jahren], 2016 Nyár [Sommer], S. 19–46.
- Eugen Bonomis Briefwechsel mit Heimatvertriebenen. Zur geographischen Zuordnung der Briefe und zur Bedeutung der Korrespondenz, in: Anikó Szilágyi-Kósa u. a. (Hg.): Wandel durch Migration. Tagungsband der Internationalen Tagung „Gesellschaftliche, sprachliche und kulturelle Wandlungen im Zuge von Migrationsprozessen“, Germanistisches Institut der Pannonischen Universität Veszprém, 25.–26. September 2014, Veszprém 2016, S. 75–86.
- (zusammen mit Saskia Pably): Budaörsi kitelepítettek levelei Bonomi Jenőnek. A levélváltások gyakoriságára vonatkozó néhány adat elemzése [Briefe der Heimatvertriebenen aus Budaörs an Eugen Bonomi. Auswertung einiger Daten zur Häufigkeit des Briefwechsels], in: Acta Ethnologica Danubiana, Jahrbuch des Forschungszentrums für Europäische Ethnologie Komárom–Somorja, 17 (2015), S. 223–228.