Sammlung „Ostdeutsche Bänder“

Mehr als Tonbänder

In der Überlieferung des IKDE wird das Tonarchiv häufig als Keimzelle des Instituts beschrieben. Tonband Nr. 1, entstanden 1951 in der Neusiedlung St. Stefan bei Darmstadt, gilt quasi als Gründungsdokument des Instituts. Künzig und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen auf mehr als 1.200 Bändern Erinnerungen von heimatvertriebenen Deutschen aus allen Gebieten des östlichen Europa auf. Im Tonarchiv sind neben den Bändern biografische Materialien zu den aufgenommenen Personen, handgeschriebene Liederbücher, Transkripte von Erzählstoffen und die Korrespondenz mit den „Gewährsleuten“ bewahrt.
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Retten und Sammeln

Hülle des ersten Ton-Bild-Buches Johannes Künzigs mit dem programmatischen Titel „Ehe sie verklingen …“, Freiburg 1958
Hülle des ersten Ton-Bild-Buches Johannes Künzigs mit dem programmatischen Titel „Ehe sie verklingen …“, Freiburg 1958. Tonarchiv des IKDE

1951 verfasste Johannes Künzig einen „Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferungen der Heimatvertriebenen“, in dem er das Verschwinden volkskundlicher Überlieferungen aus dem östlichen Europas beschrieb und zu dessen Rettung aufrief. Sein Forschungsansatz entsprach dabei dem Profil der sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasch etablierenden Heimatvertriebenenvolkskunde, die sich lange Zeit vor allem mit der Rekonstruktion der Lebens- und Überlieferungswelt der Heimatvertriebenen vor 1945 beschäftigte. Auch die Arbeit Künzigs war geleitet von einem eindeutigen Rettungsgedanken. „Ehe sie verklingen ...“ lautete der Titel einer Ende der 1950er-Jahre in Freiburg zusammengestellten Schallplattenedition „ostdeutscher“ Volkslieder, und der Titel war Programm.

Prospekt für ein Magnetophon der Firma AEG, späte 1950er-Jahre. Tonarchiv des IKDE.
Prospekt für ein Magnetophon der Firma AEG, späte 1950er-Jahre. Tonarchiv des IKDE.

Die von Johannes Künzig durchgeführten „Rettungsfeldzüge“ mit den damals modernsten technischen Mitteln galten dem „Reinen“ und „Authentischen“. Im „Magnetophongerät“ sah er das geeignete Instrument, mündliche Überlieferungen originalgetreu aufzuzeichnen. Das „naturgetreue Tonbild“ war es, das er sammeln und edieren und damit bewahren wollte. Johannes Künzig betrachtete die mit Hilfe eines Tonbands aufgenommenen „Selbstaussagen“ als „zuverlässigste“ Quellen, die auch ohne eingehende Kontextualisierung in ihrer Unmittelbarkeit „allen schriftlichen Darstellungen überlegen“ seien.

Seit langer Zeit bin ich ein betonter Anhänger der Tonaufnahme als der getreuesten und zuverlässigsten Fixierung der Stimme des Volkes

Johannes Künzig, Zentralstelle für Volkskunde der Heimatvertriebenen, in: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen, Band 1 (1955), S. 206.

Beinahe wie ein Schöpfungsbericht klingt die Entstehung des ersten Tonbandes in der Neusiedlung St. Stephan in Darmstadt.

Da bemerkten wir, daß in einem der halbfertigen Siedlungshäuschen doch schon Stromanschluß bestand. Unser Gerät mußten wir zwar auf den blanken Erdboden stellen, aber hier entstand Tonband Nr. 1 unseres Volkskunde-Tonarchivs. Unvergeßlich bleibt uns, wie Richard Weiß und seine Studenten von der Unmittelbarkeit des Erzählens – von der früheren Heimat bis zum Neubeginn – ergriffen waren.

Johannes Künzig, Elfhundert Tonbänder dokumentieren deutsches und europäisches Schicksal. Das Volkskunde-Archiv des Instituts für ostdeutsche Volkskunde in Freiburg, in: Der gemeinsame Weg, 2. Jg. (1976), H. 2, S. 22.

Johannes Künzig leitet seine erste Tonaufnahme in der Neusiedlung St. Stephan bei Darmstadt ein.

Fehlende Kontextualisierung

Obwohl Künzig immer wieder eine Einbettung der Aufnahmen in ihren soziokulturellen Kontext (mittels einer schriftlichen Dokumentation zur Aufnahme und dem/der/den Aufgenommenen) einforderte, erfolgte diese von seiner Seite nur sehr spärlich. Bei den Tonaufnahmen etwa wurden die Fragen an die Gewährsleute meist nicht dokumentiert. Um wertvolles Bandmaterial – so die Begründung – zu sparen, wurden bei der Mehrzahl der Gespräche nur die Antworten aufgenommen. Sind Fragen zu hören, dann belegen diese häufig, wie sehr in ihnen die Antworten bereits mitgedacht, bisweilen auch vorformuliert wurden. Auch die vor allem in der Korrespondenz mit den Aufgenommenen deutlich werdende, von Künzig stets betonte Nähe zu seinen „Gewährspersonen“ wird in keinster Weise problematisiert.

Eine „Gewährsfrau“ im Tonarchiv des damaligen „Instituts für ostdeutsche Volkskunde“ in Freiburg vor den versammelten Schätzen Künzigs.
Eine „Gewährsfrau“ im Tonarchiv des damaligen „Instituts für ostdeutsche Volkskunde“ in Freiburg vor den versammelten Schätzen Künzigs.
Johannes Künzig und zwei von ihm aufgenommene Sängerinnen bei einer Feldforschung in Wolfsberg (Gărâna/Gărîna, Szörényordás) im Banater Bergland (Rumänien), 3.9.1969.
Johannes Künzig und zwei von ihm aufgenommene Sängerinnen bei einer Feldforschung in Wolfsberg (Gărâna/Gărîna, Szörényordás) im Banater Bergland (Rumänien), 3.9.1969.
Blatt aus der „Gewährsleute-Kartei“ des Tonarchivs. Auf den Karteikarten sind neben persönlichen Daten der/des Aufgenommenen und einer Fotografie Hinweise zum Lebenslauf und Werdegang der „Gewährsleute“ und Angaben zu den besprochenen Bändern festgehalten.
Blatt aus der „Gewährsleute-Kartei“ des Tonarchivs. Auf den Karteikarten sind neben persönlichen Daten der/des Aufgenommenen und einer Fotografie Hinweise zum Lebenslauf und Werdegang der „Gewährsleute“ und Angaben zu den besprochenen Bändern festgehalten.

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